Bestandsaufnahme
Ort: wo es gemütlich ist und man schreiben kann
Anzahl der Teilnehmer*innen (TN): 2 – 999
Dauer: ca. 10 min
Alter der Teilnehmer*innen (TN): ab 10 Jahren
Material: pro TN ein Stift, Karteikarten o. Ä., Text „Bestandsaufnahme“ von Julia Engelmann
Beschreibung der Methode:
Der Text wird vorgelesen oder angehört. In der Mitte des Raumes werden 3 „Felder“ gekennzeichnet:
1. Was ich alles hab
2. Was ich alles nicht hab
3. Was ich alles hab, aber nicht will
Die TN dürfen Dinge, die ihnen dazu einfallen, auf Karteikarten schreiben und dazu legen. Anschließend können sie sich darüber austauschen.
Text „Bestandsaufnahme“ von Poetry Slammerin Julia Engelmann:
„Ich neige dazu oft mehr auf die Sachen zu gucken, die ich nicht hab als auf die Sachen, die ich hab und als ich traurig war, hab ich das mal zusammengefasst in eine dreiteilige Bestandsaufnahme. Also:
Teil 1 von 3 – Was ich alles nicht hab
Ich hab keine bessere Hälfte und keine Schokoladenseite.
Ich hab keine Macht, keinen Titel, kein Tattoo und keine Lieblingskneipe.
Ich hab kein gutes Bauchgefühl, weil ich es oft mit Hunger verwechsel,
ich hab kein gutes Ordnungsempfinden, obwohl ich Ordnung sehr schätze.
Ich hab mich nie getraut, beim Flaschendrehen die Flasche zu dreh´n,
ich hab noch nie Sternschnuppen, nie Glühwürmchen und nie Titanic geseh´n.
Und ich hab kein Swag und kein Sixpack, kein Nickname, kein BigMac,
keine Gang, keine Bigband, kein Basecap, kein Whatsapp,
ich hab keine Straße, kein Bezirk und auch sonst keinen Block,
bin nicht bei Youtube, nicht bei Twitter, hab auch sonst nie gebloggt,
hab kein Talent im Nake droppen, nicht im Party hoppen,
nicht im Smalltalken, nicht im Moon walken,
ich hab kein Style und kein Markenzeichen, kein Look und keinen X-Factor,
und ich hab auch kein Problem damit, weils bloß ein Wort ist, mit nem X davor,
mein Facebook liest sich nicht wie die Chronik von Narnia,
ich hab keinen Plan von der Liebe und keine Ahnung von Karma,
ich hab keine schöne Handschrift, keine Super- oder Zauberkraft,
ich hab nicht „the moves like Jagger“ und in keinem Club ne Mitgliedschaft.
Teil 2 von 3 – was ich alles hab, aber nicht will (ist ein bisschen länger)
Ich hab – ich hab Angst.
Ich hab Angst vor falschen Entscheidungen und Angst, mich nicht zu entscheiden,
ich hab Angst irgendwo weg zu gehn und mir eigentlich zu wünschen zu bleiben. Ich hab Angst Fehler zu machen, auch wenn ich weiß, dass sie wichtig sind,
ich hab Angst, davor zu spät zu merken, welche Wege doch richtig sind,
ich hab Angst davor, wie schnell Zeit vergeht und dass ich sie nicht richtig nutze,
ich hab Angst, dass nicht alles umsetzen kann, was mir eigentlich lange bewusst ist.
Ich hab Angst, dass ich nie eine so gute Mutter wie meine werde,
ich hab Angst, dass es Dinge gibt, die, obwohl ich das weiß, ich nie lerne,
ich hab Angst, ich selber zu sein und dass das nicht ausreicht.
Ich hab Angst, zu viel zu verpassen und ich sag zu oft vielleicht.
Und manchmal hab ich Angst, dass ich im Zug keinen Platz kriege, oder mein Ticket verlier.
Und ich hab Angst, dass ich Angst viel zu wichtig nehm, oder vielleicht falsch definier.
Ich hab Angst, dass ich vom ganzen Nachdenken irgendwann heimlich still und leise implodier
Und in 1000 Stücke zersplitter
Aber wenigstens hab ich keine Angst vor Fliegen,
noch vorm Fliegen, nicht vor Zombies und auch nicht vor Gewitter.
Und ich hab Luxusprobleme. Manchmal will ich Zähne putzen und dann ist meine Zahnpasta leer
und manchmal hab ich Bock auf Nudeln und bei Rewe ist die Pasta schon leer
und manchmal kann ich mich nicht entscheiden zwischen Kaffee und Tee
und manchmal hab ich Bauch- oder Kopf- oder Heim- oder Zahn- oder auch Hals- oder Fernweh.
Und manchmal hab ich das Gefühl, dass andere besser sind als ich,
dann muss ich überrascht feststellen, dass
alte Menschen weiser, Millionäre reicher,
Luft leichter und luftiger,
Äpfel reifer und fruchtiger,
Einhörner flauschiger,
das Meer viel berauschender,
Kleber krasser und klebriger,
Gewässer nasser und ewiger
sind als ich.
Und manchmal muss ich feststellen, dass ich dich lieber mag, als du mich.
Teil 3 von 3 – was ich alles hab
Ich hab soo viele Dinge, viel mehr als ich eigentlich er- und vertrage,
ich hab so viel Klamotten und Schmuck und Gedöns, viel mehr, als ich eigentlich trage,
ich hab ein Einrad und ein Skateboard, dass ich eigentlich nicht fahre und ich hab –
Augen.
Die alles das, was ich betrachte auch tatsächlich sehn.
Ich hab Beine – die manchmal stehen oder tanzen oder sitzen oder tatkräftig gehen,
ich hab Ohren, die alles das, was du sagst, ganz wörtlich verstehen
– und manchmal auch das, was du eigentlich meinst.
Ich hab Empathie, die mir weh tut, wenn irgendwer weint,
ich hab Arme und Hände, die Dinge halten können und dich.
Ich hab eine Mimik aus Muskeln und Fältchen und Haut im Gesicht.
Ich hab ein Herz, das ich zu selten auf der Zunge trage, aus Angst, dass ich ´s verschluck,
ich hab ein Lächeln, das ziemlich gut funktioniert, aber das ich zu selten benutz,
ich hab Freunde und Träume, eine Stimme und Sinne, ich hab so viele Ideen, ich hab so viel zu geben,
es gibt so viel zu erleben und so viel zu lesen,
ich hab Fragen, die offen sind und Haare, die offen sind,
ich hab Tränen, die Tropfen sind und ziemlich schnell trocken sind,
ich hab – sicherlich nicht allzu viel, aber doch ein bisschen – Wissen,
ich hab ein Gehirn mit Synapsen, die sich stündlich verknüpfen,
ich hab Erinnerungen. Erinnerungen, von denen mir noch Ernte verbleibt,
ich hab meine Meinung und Gefühle und Werte und Zeit,
und ich hab Vertrauen. Vertrauen darin, dass Zeit Wunden heilt und –
Vertrauen in mich.
Vertrauen darin, dass alles gut wird und in das Leben an sich
und ich hab mein Leben, das endlich ist und nicht selbstverständlich ist,
vielleicht eine Seele, die ewig beständig ist,
auch wenn der Gedanke für mich sehr befremdlich ist
und ich hab noch was – das vergess ich oft, dann muss ich mich neu besinnen:
ich hab nicht nur nichts zu verlieren, ich hab so viel zu gewinnen!
Ich hab 1000 Gründe zu lachen und nur einen zum Weinen
und vor allem hab ich allen Grund glücklich zu sein.“