(nach Henri J. M. Nouwen)
Im Mutterleib wuchsen Zwillinge heran. In dem Maße wie ihr Bewusstsein, stieg auch ihre Freude: „Ist es nicht wunderbar, dass wir leben?“, sagte eines Tages der eine zum anderen. Die Zwillinge begannen im Laufe der Zeit ihre Welt zu entdecken. Dabei fanden sie auch die Schnur, die sie mit ihrer Mutter verband und ihnen Nahrung gab. Beglückt sagten sie: „Wie groß ist doch die Liebe unserer Mutter, dass sie ihr eigenes Leben mit uns teilt!“ So vergingen die Wochen und sie bemerkten, wie sie sich veränderten. „Was bedeutet es, dass wir uns im Laufe der Zeit so verändern?“ fragte der eine den anderen. Der antwortete: „Das bedeutet, dass unser Aufenthalt in dieser Welt bald dem Ende zugeht.“ „Aber ich will doch gar nicht gehen“, entgegnete der zweite, und fügte hinzu: “Glaubst du eigentlich an ein Leben nach der Geburt?“ “Ja, das gibt es. Unser Leben hier ist nur dazu gedacht, dass wir wachsen und uns auf das Leben nach der Geburt vorbereiten, damit wir stark genug sind für das was uns erwartet.“ “Blödsinn, das gibt es doch nicht. Wie soll denn das überhaupt aussehen, ein Leben nach der Geburt?“. “Das weiß ich auch nicht so genau. Aber es wird sicher heller als hier sein. Und vielleicht werden wir herumlaufen und mit dem Mund essen?“. “So ein Unsinn! Herumlaufen, das geht doch gar nicht. Und mit dem Mund essen, so eine komische Idee! Es gibt doch eine Nabelschnur, die uns ernährt und die ist ja jetzt schon zu kurz zum Herumlaufen.““Doch es geht ganz bestimmt. Es wird eben alles nur ein bisschen anders!“. „Wir werden unsere Lebensschnur verlieren. Wie aber sollen wir ohne sie leben? Vielleicht haben andere vor uns schon diesen Mutterschoß verlassen, doch keiner von ihnen ist zurückgekommen und hat uns gesagt, dass es ein Leben nach der Geburt gibt. Nein, die Geburt ist das Ende, da bin ich mir ganz sicher!““Es ist noch nie einer zurückgekommen von “nach der Geburt“. Mit der Geburt ist das Leben zu Ende, danach ist alles dunkel und Quälerei“. So fiel der eine, der Pessimistische von beiden, in einen tiefen Kummer und sagte: „Wenn die Empfängnis mit der Geburt endet, welchen Sinn hat dann das Leben im Mutterschoß? Es ist sinnlos. Vielleicht gibt es gar keine Mutter?“„Aber sie muss doch existieren“, protestierte der andere, „wie sollten wir sonst hierhergekommen sein? Und wie könnten wir am Leben bleiben? Auch wenn ich nicht genau weiß, wie das Leben nach der Geburt aussieht, jedenfalls werden wir dann unsere Mutter sehen und sie wird für uns sorgen“. “Mutter? Du glaubst an eine Mutter? Sag mir, hast du je unsere Mutter gesehen?“ fragte der erste. „Möglicherweise lebt sie nur in unserer Vorstellung, und wir haben sie uns bloß ausgedacht, damit wir unser Leben dann besser verstehen können. Wo ist sie denn bitte?“Na hier, überall um uns herum. Wir sind und leben in ihr und durch sie. Ohne sie können wir
gar nicht sein“. “Quatsch! Von einer Mutter habe ich noch nie etwas bemerkt, also gibt es sie auch nicht!“ „Doch manchmal, wenn wir ganz still sind, kannst du sie singen hören. Oder spüren, wenn sie unsere Welt streichelt…“